Montag, 10. Oktober 2005

Deutschland wählt: »Wir hätten gern das Drittbeste!«

Kennt denn jeder diese merkwürdige Werbung? Man sieht verschiedene Leute bei verschiedenen Gelegenheiten, im Restaurant etc., und in allen diesen Fällen geben sie bekannt, dass sie gerne das zweitbeste hätten. Diese Werbung soll Aufmerksamkeit erregen und absurd klingen – denn entscheidet man sich nicht immer für das, was man für das beste hält?
  Keinesfalls, wie die Realität zeigt. Deutschland hat jetzt eine Regierung, und in der Kanzlerfrage hat das Land sich mit der drittbesten Möglichkeit zufrieden gegeben ...
Diese meine Einschätzung ist keinesfalls besonders exotisch, sondern durchaus vom allgemeinen Stimmungsbild getragen. Und inzwischen sogar mit offiziellen Umfragen belegt: Letzte Woche erst stand in der Zeitung die überraschende Erkenntnis zu lesen, dass die Deutschen weder Merkel noch Schröder als Kanzler wollen!
  Hm, war diese Erkenntnis wirklich so überraschend? Dafür braucht man eigentlich keine Meinungsforschungsinstitute, weil das Stimmungsbild im persönlichen Umfeld schon eindeutig genug ist. Bis es in den Medien ankam, hat es etwas länger gedauert - Journalisten sind nun mal nicht die schnellsten, wenn es darum geht, etwas mitzubekommen. Vor allem dann nicht, wenn sie zu sehr damit beschäftigt, den Leuten etwas einreden zu wollen, was sie gerne hätten.
  Wie auch immer die Union es in den letzten Wochen schönreden wollte: Eine Kanzlerin Merkel entspricht also nicht dem Votum des Wählers. Klar: Wenn der Wähler Merkel hätte haben wollen, hätte Schwarz-Gelb eine Mehrheit bekommen. Nun wird sie aber trotzdem Kanzlerin, und das ist deshalb die drittbeste Möglichkeit, weil es eben noch zwei weitere gegeben hätte, die dem Wählerwillen mehr entgegenkommen.
  Die beste Möglichkeit wäre es gewesen (da die Wähler nun mal weder Schröder noch Merkel wollen), dass beide zurücktreten und ein neuer Kopf an die Spitze kommt. Das war es, was das Votum des Wählers nahe legte.
  Die zweitbeste Lösung wäre das »Kanzlersharing« gewesen: ein bis zwei Jahre Schröder, und dann ein Kandidat der CDU an der Spitze. Moment mal, mag da mancher fragen: Warum wäre das die zweitbeste Lösung? Das Volk will keinen, und kriegt beide? Das klingt doch eher nach der schlechtesten Lösung!
  Nun, attraktiv war Kanzlersharing vor allem deshalb, weil man dann gewusst hätte, dass Schröder nach zwei Jahren geht. Und darauf hätte hoffen können, das Merkel nicht kommt. Für die zweitbeste Lösung sprach also vor allem die Hoffnung, dass der Wählerwille sich doch durchsetzt – wenn auch mit ein wenig Verspätung.
  Die drittbeste Lösung ist nicht einfach nur eine kleine, schrittweise Verschlechterung, die achtbare dritte Stufe auf dem Siegertreppchen. Irgendwo zwischen der zweit- und der drittbesten Lösung verlief leider die Kluft der katastrophalen Wählerwillenverdrehung. Jetzt kriegt Deutschland doch einen Kanzler, den kaum einer will, und das für vier Jahre stabil ...
  Und wenn Schröder sich doch noch breitschlagen lässt und Vizekanzler wird, kriegt der Wähler gleich beide unerwünschten Kandidaten, und zwar ohne Ablauffrist.
  Nun ja, ich möchte Personalien nicht überbewerten. Wichtiger als die K-Frage sind letztlich doch die Inhalte, und da eine große Koalition sicher der beste Ansatz. Und eine Kanzlerin Merkel ist in einer großen Koalition zumindest deutlich stärker gebunden als in einer Schwarz-Gelben Regierungsmannschaft. Also, es ist an der Zeit, die Personalfragen zum Guten wie zum Schlechten hinter sich zu lassen und lieber darauf zu sehen, was die neue Regierung in der Praxis auf die Beine stellt.
  Schade nur, dass in dieser Hinsicht die neue Regierung schon mit einer Hypothek ins Rennen geht – mit einer Kanzlerin, die schon gezeigt hat, dass sie mit Inhalten und Positionen zur Sicherung ihres Pöstchens bezahlt.

Als Fazit dieser Kanzlerwahl bleibt dann noch ein gewisser geklärter Blick auf demokratische Strukturen und die Mitbestimmung des Volkes. Es gab in der Geschichte und auch in der Gegenwart häufig die Frage, wie ein Volk bestimmte Entwicklungen nur zulassen konnte. Warum dulden afrikanische Völker korrupte Cliquen, die den Reichtum der Länder verbrennen? Warum hat der Irak sich nicht selbst von Saddam befreien können?
  Nun, diese Fragen sollte man heute besser nicht mehr stellen. Wir in Deutschland haben ein Regierungssystem, dass es den Menschen sehr viel leichter macht, Einfluss zu nehmen. Wir haben eine Demokratie, freie Wahlen, persönliche Sicherheit für politisches Engagement – und trotzdem kann das deutsche Volk nicht verhindern, dass eine Person Kanzler wird, die zwei Drittel des Volkes ablehnen.
  Was sagt das aus über politische Gestaltungsmöglichkeiten insgesamt?
  Was kann man da an politischer Selbstverantwortung anderswo erwarten?
  Diese letzte Wahl mit ihren Folgen war auf jeden Fall eine sehr plastische Demonstration der Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Mitbestimmung, und eine alles in allem relativierende Erfahrung. Und wer auch immer in Zukunft den politikverdrossenen Nichtwählern noch erzählen will, dass sie ja mitbestimmen könnten – der wird sich einen verdammt harten Gegenbeweis um die Ohren hauen lassen müssen.
  Das mag sich mittelfristig als noch größere Belastung erweisen als die Kanzlerfrage an sich.

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