Mittwoch, 24. Mai 2006

Das Anti-Methusalemkomkplott

Jüngst habe ich »Eine Trillion Euro« gelesen, eine Anthologie mit Science-Fiction-Geschichten. In manchen diesen Erzählungen ging es auch um (künftige) Möglichkeiten, das Leben zu verlängern und bis ins hohe Alter jung zu bleiben.
  Da es ja nun eine heilige Pflicht der Literatur ist, möglichst überall Probleme zu sehen, wurde auch bei diesem Thema gebührend alles aufgelistet, was da so schief laufen kann: Hundertjährige, die noch fit wie fünfzig sind, aber sich trotzdem nicht mehr aus ihrer Seniorenresidenz hervorwagen und den ganzen Tag lang im Erinnerungs-Stimulator immer dieselben Erlebnisse ihrer Jugend wiederholen; und die Kinder der »jungen Alten«, wie sie grollend darauf warten, dass die Eltern endlich abtreten und ihnen Platz machen ... sprich: Es wurden sämtliche längst überholten Klischees der »Altersprobleme« neu durchgehechelt.
  Von der SF würde ich eigentlich eine andere Perspektive erwarten, nämlich visionär und zumindest auf dem neuesten Stand, nicht nur eine Wiederholung der Bedenken des letzten Jahrhunderts.


Denn würde ein fitter Hundertjähriger tatsächlich nur noch in Nostalgie schwelgen und nicht mehr am Leben teilhaben? Ein solches Verhalten ist wohl kaum eine unausweichliche Folge des Alterns, sondern eher von körperlichem und geistigem Zerfall. Ein alter Mensch zieht sich von der Welt zurück, wenn er das Gefühl hat, nicht mehr mithalten zu können. Man flieht sich in Erinnerungen, wenn die körperlichen und geistigen Fähigkeiten dafür sorgen, dass man an den Geschehnissen der Gegenwart nicht mehr teilhaben kann – eine eingeschränkte geistige Regsamkeit ist also ein gesundheitliches Problem, und keinesfalls eine selbstverständliche Geisteshaltung alter Menschen.
  Meine These lautet also: Wenn ein 100-Jähriger so fit ist wie ein 50-Jähriger, dann wird er sich auch wie ein 50-Jähriger verhalten. Wenn in irgendeiner fernen Zukunft nicht nur die Lebenserwartung der Menschen steigt, sondern auch ihre körperliche Gesundheit, dann wird das Verhalten und das Denken dieser Menschen den neuen körperlichen Möglichkeiten auch folgen – eine »Vergreisung« kommt als eigenständiges Problem überhaupt nicht vor.
  Das ist nicht nur eine Vermutung von mir, sondern tatsächlich deuten alle aktuellen Untersuchungen zum Thema in genau diese Richtung. Wer aufmerksam Zeitung liest, wird regelmäßig auch Studien zu den »neuen Alten« finden und feststellen, dass die Realität schon längst die klassischen Vorstellungen vom Alter überholt hat: Die neue »Großeltern«-Generation wird nicht nur älter als die Generationen davor, und das bei besserer Gesundheit, sondern sie verhält sich auch anders: Sie nimmt am gesellschaftlichen Leben teil, verhält sich im Rahmen der gesundheitlichen Möglichkeiten aktiv und fächert sich in eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensstile auf, die jedem Alters-Klischee Hohn sprechen.
  Natürlich gibt es sie noch, die »typischen Alten«; und natürlich kommt es oft genug vor, dass die gesteigerte Lebenserwartung unserer Zeit auch eine Phase körperlicher und geistiger Gebrechlichkeit verlängert. Aber alles deutet darauf hin, dass das kein Problem des Alters, der hohen Lebenserwartung und der Psychologie ist, sondern einzig und allein der Gesundheit. Soweit man die medizinischen Probleme in den Griff kriegt, wird auch das Alter an sich nicht zu einem pathologischen Zustand.


Auch was die Probleme des Generationenwechsels betrifft, ist unsere Gesellschaft heute schon weiter, als das Klischee wahrhaben möchte. Tatsächlich haben sich die Strukturen schon an die veränderte Lebenserwartung angepasst.
  Nicht umsonst ist es heute nur noch selten so, dass die Kinder beruflich in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Während früher die Mittel zur Berufsausübung meist in der Familie lagen und es sinnvoll war, diese Mittel über eine familiäre Kontinuität abzusichern, gehen doch heute die meisten Individuen ihren eigenen Lebensweg und suchen sich Aufgaben, die nicht in Konkurrenz zu den älteren Generationen der Familie stehen. Sicher mag es noch irgendwelche Kinder geben, die nur darauf warten, dass sie endlich die Firma der Eltern erben können – aber eine solche Haltung muss man wohl doch eher als Aberration denn als den gesellschaftlichen Normalfall ansehen.
  Ich würde also nicht mehr erwarten, dass die jüngeren Generationen sich durch eine längere Lebenserwartung der Älteren unter Druck gesetzt fühlt. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Generationen wurden auf breiter Basis des Wettbewerbs entkleidet, und man strebt weniger nach »Nachfolge« denn nach einer möglichst langen Beibehaltung des Ist-Zustandes: Man hat sich an die Vorstellung gewöhnt, dass die älteren Generationen möglichst lange da sind und bei guter Gesundheit, und jede Veränderung dieses Zustandes wird eher als Bedrohung empfunden.
  Auch in dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft also schon sehr viel besser an die veränderten Lebensverhältnisse angepasst, als mancher Geschichtenerzähler wahrhaben möchte. Und es zeigt sich, dass die meisten Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen ganz automatisch und unmerklich vonstatten gehen und man sich oft zu viele Gedanken macht über Probleme, die niemals auftreten werden.


Wenn ich also die genannten Geschichten und auch andere Veröffentlichungen zur Altersfrage verfolge, habe ich nicht so sehr das Gefühl, dass es tatsächlich ein Problem mit der gestiegenen Lebenserwartung unserer Gesellschaft gibt. Ich habe vielmehr das Problem, dass es konservative Personen der mittleren Alterslage gibt, die gerne ein Problem konstruieren wollen. Die in erster Linie zurückblicken und sich ihr Bild vom »Alter« aus der Vergangenheit holen und es dann in die Zukunft projizieren, ohne die notwendigen Veränderungen zu berücksichtigen.
  Ich gewinne also den Eindruck, dass zunehmend ein »Anti-Methusalem-Komplott« stattfindet, indem aus einem traditionalistischen »Altersbild«, verbunden mit einem idealisierten Jugendideal, ein Bedrohungszenario gezeichnet wird. Es wird ein Bild von »alten Menschen« gezeichnet, das man verteufeln kann – was natürlich umso leichter geht, wenn man die tatsächlichen Alten nicht mehr anschauen muss.
  Das ist schade, denn es lenkt doch die Aufmerksamkeit ab und verhindert eine konstruktive Steuerung des gesellschaftlichen Wandels, die den Realitäten Rechnung trägt. Und es vernebelt den Blick auf den einzigen greifbaren, materiellen Kern der Altersproblematik, die sich im Grunde auf die rein gesundheitlich-medizinische Komponente reduzieren ließe. Und das legt den Schluss nahe, dass die Diskussion der Altersfrage derzeit eher als Nebenschauplatz einer neoliberalen Gesundheits-Spardebatte geführt wird – und dass auch die Literaten sich von dieser Perspektive leicht einnebeln lassen.

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