Donnerstag, 1. Juni 2006

Der Ärztestreik und der Rücken der Patienten ...

Angeblich wollen die Krankenhausärzte ihren Streik ja nicht auf dem Rücken der Patienten austragen: Die Notfallversorgung sei sichergestellt, so heißt es. Nur: Was ist ein Notfall? Ganz offensichtlich liegt ein Notfall nur dann vor, wenn ein Patient im nächsten Augenblick tot umzufallen droht.
  Heute in der Zeitung war der Fall eines Patienten geschildert, der schwer rückenleidend ist. Er kann sich nur mit Gehhilfen bewegen, höchstens 50 Meter am Stück, und das auch nur unter ständigen Rückenschmerzen bis hin zu Taubheitsgefühlen in den Gliedmaßen. Eine Operation war bereits vorgesehen und geplant, doch wegen des Streiks ist sie nun auf unbestimmte Zeit verschoben – also, wenn man mich fragt, so wird in diesem Fall der Streik auf dem Rücken eines Patienten ausgetragen, und zwar buchstäblich!
  Würde man einem Menschen absichtlich solche Schmerzen zufügen, wie dieser Patient sie erdulden muss, so würde man sicher von »Folter« sprechen. Das kann man den Ärzten natürlich nicht vorwerfen, denn sie fügen dem Patienten die Schmerzen ja nicht zu. Ein wenig schlimmer als eine unterlassene Hilfeleistung ist es aber wohl doch: denn von einer unterlassenen Hilfeleistung spricht man ja dann, wenn ein ansonsten völlig Unbeteiligter keine Hilfe leistet. Unbeteiligt sind die Ärzte allerdings nicht; immerhin war ja eine Operation fest geplant, womit wohl so etwas wie eine »Vereinbarung« vorliegt, die von den streikenden Ärzten gebrochen wurde.
  Man muss also wohl feststellen, dass der Ärztestreik zumindest in diesem und in ähnlich gelagerten Fällen dazu führt, dass Ärzte Leid und Schmerzen von Patienten zu verantworten haben. Nach meinem Empfinden bewegt sich die moralische Verfehlung dabei, wie oben dargelegt, irgendwo zwischen »Folter« und »unterlassener Hilfeleistung«. Ich frage mich, ob ein Arzt, der einen konkreten Patienten unerträgliche und vermeidbare Schmerzen erdulden lässt, um mehr Geld zu bekommen, bei entsprechender Bezahlung auch Beihilfe zu tatsächlicher Folter leisten würde ... oder ob die Ärzte, wenn sie Operationstermine verschieben, es zuvor vielleicht tunlichst vermieden haben, den Patienten kennen zu lernen und ob das vielleicht den Unterschied ausmacht, dass sie sein Leid nicht mitansehen müssen.
  Jedenfalls fällt mir die Vorstellung schwer, das nach einem solchen Umgang mit dem Leid eines anderen noch ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient entstehen kann. Es bleibt das Gefühl, dass hier die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr gewahrt ist.


Womit sich natürlich die Frage stellt, wie die Klinikärzte überhaupt noch ihre berechtigten Forderungen durchsetzen sollen, wenn ihre Verhandlungspartner sich stur stellen und jede (Streik-)Maßnahme gleich mit der Keule der »ärztlichen Verantwortung« niedergeknüppelt wird. Das ist sicher ein Problem ... für das wohl die Insider ein Lösung finden müssen. Denn so, wie es jetzt geht, sollte es eigentlich nicht gehen.
  Meine Traumvorstellung wäre da schon ein »Bürokratiestreik«: Die streikenden Ärzte gehen nicht zu Demonstrationen, sondern zu ihren Arbeitsplätzen und stehen für die Patienten zur Verfügung. Weil sie aber streiken und nicht arbeiten, wäre das nur eine »freiwillige Hilfeleistung« - verbunden mit der strikten Weigerung, irgendwelche Formulare auszufüllen.
  Das würde vielleicht sogar die tatsächlichen Verhandlungspartner der Ärzte unter Druck setzen, nämlich die Klinikleitungen und die Klinikträger – weil dann nämlich in den Einrichtungen die Mittel für medizinische Betreuung zur Verfügung gestellt werden müssten, ohne dass die Möglichkeit der Abrechnung besteht.
  Und wenn die Kliniken das nicht wollen, dann müssten sie eingreifen, die Ärzte am Arbeiten hindern und die Patienten nach Hause schicken; und da es ja in erster Linie um Kliniken in öffentlicher Trägerschaft geht, läge der Schwarze Peter dann nicht mehr bei den Ärzten, sondern bei den Politikern – die dann begründen müssten, warum sie die Patienten nicht behandeln lassen, obwohl die Ärzte da sind und sich um sie kümmern wollen. Das sieht, auf den ersten Blick, doch nach einer rückenschonenden und doch offensiven Streikform aus.
  Aber, wie gesagt, damit müssen sich wohl die Insider auseinandersetzen. Und vermutlich kennen die Ärzte, so sehr sie sich auch über die Zunahme der Bürokratie beklagt haben, trotzdem genug Gründe, warum sie ohne diese Bürokratie dann doch keine Hilfeleistungen anbieten können. Vor allem, so lange der eigene Rücken noch gesund genug ist, um damit Transparente tragen zu können ...

Nachtrag:

Nun ist es soweit, und der Ärztestreik hat sein erstes Todesopfer gefordert: Eine herzkranke Frau starb in Göttingen, nachdem ihre Aufnahme in der Klinik wegen Streik abgelehnt wurde (Quelle: rp-online). Ich denke durchaus, dass der Arzt, der diese Entscheidung getroffen hat, wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt werden kann & sollte - entsprechende Präzedenzfalle ohne Streik-Hintergrund gibt es genug. Obwohl diesmal vermutlich genug Vorwände dafür gefunden werden, warum man dem Arzt keinen Vorwurf machen kann, wenn er sein Recht auf Arbeitskampf höher schätzt als ein Menschenleben ...

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