Mittwoch, 16. April 2008

Das Urheberrecht als Ausdruck eines gesellschaftlichen Autismus

Vor einiger Zeit lief eine interessante Dokumentation im Fernsehen, wo eine Betroffene folgenden bemerkenswerten Satz prägte: Es waren nicht die geselligen Typen am Lagerfeuer, die die erste Speerspitze erfunden haben, sondern der Autist, der einsam abseits saß.
  Ein guter Satz, den ich sogleich sehr sympathisch fand. Allerdings hatte diese Autistin ihre Erkenntnis nicht ganz zu Ende durchdacht. Denn was geschah mit der Speerspitze, nachdem der Autist sie erfunden hatte? Hat der Autist damit Jagd gemacht und wurde satt, reich und angesehen?
  Nein, natürlich nicht. Denn zur Jagd braucht man selbst mit der besten Speerspitze noch ein paar handfeste Kumpels, und das waren eben schon damals in der Steinzeit die geselligen Typen am Lagerfeuer, die lieber die Speerspitze mitgenommen haben als den Autisten. Und so haben schließlich die »Normalos« die Erfindung des bedauernswerten Autisten benutzt. Natürlich ohne Lizenzgebühren zu bezahlen, weshalb der autistische Erfinder letztendlich in Armut verstarb.
  So war es in der Steinzeit, und so blieb es lange danach.


Manch einer mag jetzt den Kopf schütteln und sagen: „Na und? Die paar Autisten können ja keine so große Rolle in der Menschheitsgeschichte gespielt haben.“ Nun, der Betreffende hat womöglich zu viel „Rainman“ geschaut und ein etwas eingeschränktes Bild vom breiten Spektrum „autistischer Störungen“. Denn dieses Problem betrifft nicht nur eine schwerbehinderte Minderheit, sondern zieht sich graduell in unterschiedlichen Ausprägungen durch die gesamte Gesellschaft, sprich: Es gibt viel mehr „Autisten“, als mancher glaubt.
  Neben den Menschen, die gemeinhin als Autisten bezeichnet werden und unter einer ebenso schweren wie unübersehbaren Störung leiden, gibt es einen größeren Personenkreis, der in leichterer Form an Teilaspekten dieser „Störung“ leidet. Erst die moderne Neurologie mit ihrer Möglichkeit, Gehirnaktivitäten zu messen, konnte feststellen, dass die damit verbundenen Verhaltensweisen tatsächlich auf „autistische“ Verarbeitungsmuster im Gehirn zurückzuführen sind. Der Sachverhalt an sich war allerdings schon lange bekannt: Früher bezeichnete man es bloß nicht als „autistische Störung“, sondern hatte andere Bezeichnungen für so was - „Spleen“, „sonderbar“, im angelsächsischen Raum „Geek Syndrome“ ... oder hier in Deutschland auch den „zerstreuten Professor“.
  Und damit wären wir wieder bei den Autisten, die die Speerspitzen erfinden. Auch heute noch. Denn diese autistischen Störungen im Mittelfeld - noch nicht wirklich behindernd, aber auch nicht normal - führen dazu, dass sonst mit sozialen Belangen beschäftigte Hirnregionen zusätzliche Kapazitäten für andere Dinge zur Verfügung stellen; und zwar wirklich für „Dinge“, denn die Betroffenen beschäftigen sich naturgemäß lieber mit Sachen oder theoretischen Themen als mit Menschen, weil sie damit eben besser zurechtkommen.
  Und so stellen nicht etwa die wenigen „schweren“ Autisten, sondern vielmehr ein breites Heer „leichter“ Autisten regelmäßig die Personen, die in der Wissenschaft versinken und neue Entdeckungen machen, die tüfteln und werkeln und basteln und dabei großartige ... Dinge erschaffen, während die Masse der Normalos auch heute noch am Lagerfeuer sitzt und über Beziehungen, Statussymbole oder sonstigen undurchschaubaren Krams plaudert.


Das schien lange gut zu funktionieren: Diese „Autisten“ schaffen „Werke“, während die Normalos „Netzwerke“ erschaffen, in denen sie dann die von den Autisten geschaffenen Dinge ausnutzen. Aber natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die erfinderischen Autisten auch dafür das geeignete Werkzeug fanden. Und diese neue Speerspitze der erfinderischen Autisten ist das Urheberrecht - eine Waffe, um gezielt ihr (geistiges) Eigentum zu schützen!
  Nur leider ging es mit dieser Erfindung wie mit allem, was die Autisten bisher geschaffen haben: Die geselligen Normalos am Lagerfeuer drehten sich um, sagten: „Oh, das ist aber ein nützliches Ding.“ Rasch bildeten sie „Verwerter“-Netzwerke, die die Urheberrechts-Speerspitze viel besser einsetzen konnten als der autistische „Urheber“, und sorgten dafür, dass der Ertrag wiederum bei ihnen landete.
  Na ja, immerhin zahlen sie dafür wenigstens Lizenzgebühren, was ein deutlicher Fortschritt gegenüber den letzten Jahrtausenden ist.


Und, psst, nicht weitersagen: Diese neue Speerspitze der Autisten war vergiftet. Denn so dumm sind die ewigen Erfinder der Menschheit auch nicht: Ein rein gedankliches Konstrukt wie das Urheberrecht kann nur dann funktionieren, wenn die Gesellschaft selbst immer autistischer funktioniert, sprich: geregelter, dinglicher, funktionaler. Wenn es also "normal" wird, etwas als "Sache" anzusehen, was eigentlich gar keine Sache ist. Und so schaffen die Autisten es vielleicht wieder nicht, endlich mal den Löwenanteil an ihrer Entdeckung abzukriegen - aber zumindest sitzen sie nun am Lagerfeuer, und nicht mehr am Rand.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich muss mal zu einem Neurologen, mich durchchecken lassen...

Interessanter Artikel!


Dein literarischer Habenichts