Mittwoch, 1. März 2006

Untermieter

Letzte Woche klopfte eine Spinne an meine Tür. »Guten Tag«, sagte sie. »Haben Sie vielleicht einen kleinen Winkel für mich, in dem ich wohnen kann? Ich mache auch keine Umstände. Ich bin Selbstversorger.«
  »Ha. Haha«, erwiderte ich und dachte an die kleine Springspinne, die ich mal eine Zeit lang bei uns wohnen ließ, bis ich sie eines Tages mit einem so plattem Hinterleib auf meinem Teppich fand, dass ich schon dachte, ich wäre draufgetreten. Eine Woche dauerte es, bis ich den verhungerten Achtbeiner mit (draußen!) handgefangenen Florfliegen und Mücken so weit aufgepäppelt hatte, dass er wieder aus eigener Kraft laufen konnte. Und ich dachte an die Spinnen, die ich in einem Sommer regelmäßig auf dem Badezimmerboden liegen hatte und die erst aus dem Weg gingen, wenn ich ihnen Wasser gebracht hatte (dafür eignen sich übrigens gut die kleinen Löffel von Milka-Löffeleiern).
  Ich hatte also all die verwöhnten Zivilisationsfolger-Spinnen im Kopf, die mir schon begegnet waren, und antwortete meinem Möchtegern-Untermieter: »Kommt ja überhaupt nicht in Frage!«


Aber die Spinne ließ nicht locker.
  »Och bitte!«, sagte der kleine Arachnid. »Sie sind meine letzte Hoffnung. Aus drei Wohnungen wurde ich nun schon wegen rassistischer Vorurteile vertrieben, und die Frau unten hat mit dem Staubwedel nach mir gehauen. Ich habe mir ein Bein verstaucht und kann gar nicht mehr weiterwandern.«
  Ich blickte immer noch skeptisch, und die Spinne fügte hinzu: »Ich arbeite auch für die Unterkunft. Haben Sie Mücken in der Wohnung? Motten? Ich kümmere mich darum.«
  Und dann blickte sie mich aus ihren traurigen runden Kugelaugen flehentlich an. Spinnen haben viele runde Kugelaugen. Also gab ich nach.


Jetzt wohnt die Spinne in meinem Zimmer. Am Anfang war sie recht rührig, und immer, wenn ich in ihre Richtung blickte, flitzte sie emsig umher und suchte nach Insekten. Dann aber wurden ihre Bewegungen matter, und inzwischen hängt sie nur noch kraftlos in ihrem Winkel herum.
  »Alles in Ordnung?«, fragte ich manchmal.
  »Ja, danke der Nachfrage«, kriege ich stets zu hören. »Ich komme schon klar. Sie brauchen sich keine Sorgen um mich zu machen. Spinnen sind Selbstversorger.«
  Aber die Stimme klingt immer schwächer und war heute kaum mehr als ein Flüstern.
  Manchmal bringe ich ihr etwas zu trinken. »Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagt sie dann immer; aber sie schlürft den Tropfen gierig auf. Aber von Wasser allein kann man natürlich nicht leben.
  Gerade habe ich eine Motte im Wohnzimmer gesehen. Ich glaube nicht, dass unsere Spinne es aus eigener Kraft noch dorthin schafft. Also muss ich jetzt mal Schluss machen, mir eine kleine Plastikbox greifen und auf die Jagd gehen ...