Deutschland hat zu wenig Kinder. So liest man es in allen Zeitungen, hört es in allen Magazinbeiträgen und kann sich dieser Behauptung schon gar nicht mehr entziehen. Fast könnte man es für die Wahrheit halten: Die Renten sind in Gefahr und müssen gekürzt werden, weil immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen müssen, und das geht doch nicht!
Geht nicht? Natürlich ginge es, wenn diese wenigen Jungen entsprechend mehr produzieren. Wenn also die arbeitende Bevölkerung das doppelte erwirtschaftet wie früher, könnte sie mit den gleichen Rentenbeiträgen auch die doppelte Menge Rentner versorgen. Und zwar ohne dass man den Rentnern Kürzungen zumuten müsste, oder mehr Eigenverantwortung fordern.
Wenn man nun nicht mehr nur der Propaganda und den Milchmädchenrechnungen folgt, sondern die nackten Zahlen vergleicht, stellt man fest, dass das Bruttosozialprodukt der deutschen Wirtschaft seit den 60ern sogar inflationsbereinigt stärker gestiegen ist als der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung. Würde Deutschland also heute noch denselben Anteil an allen erwirtschafteten Gütern den Rentnern zukommen lassen, dann wäre die Rente auch heute noch ebenso sicher wie in den 60ern.
Und im Augenblick gibt es keine seriöse Rechnung, die für die Zukunft etwas anderes prognostiziert: Denn niemand kann sagen, wie die Produktivität sich in den nächsten 30 Jahren entwickelt – es spricht aber einiges dafür, dass selbst bei einer aussterbenden und überalternden Bevölkerung dank fortschreitender Technisierung weniger Arbeitskräfte mehr produzieren können als heute. Und folglich auch mehr Güter zur Verfügung stehen, die dann bei gleichem Verteilungsschlüssel auch mehr Rentner versorgen können.
Warum funktioniert das System also nicht mehr? Warum müssen schon heute die Rentenbeiträge immer weiter erhöht werden, und gleichzeitig die Rentenleistungen immer weiter gesenkt, wenn doch angeblich genug da ist, um bei gleichen Anteilen sogar mehr auszuzahlen?
Die Antwort darauf ist ganz einfach: Die Renten werden eben nicht als Anteil an der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung ausgezahlt, sondern nur als Anteil am Einkommen einer kleinen Gruppe der Deutschen. Und diese Bevölkerungsgruppe – nennen wir sie mal „Arbeitnehmer“ - erhält einen immer geringeren Anteil an dem Ertrag, der in Deutschland erwirtschaftet wird.
Diese Arbeitnehmer erzeugen also immer mehr, kriegen davon aber immer weniger ab – und müssen von diesem wenigen auch noch immer mehr Rentner bezahlen.
Deutschland hat also kein demographisches Problem. Das Rentenproblem beruht in Wahrheit nicht auf zu wenig Kindern und zu vielen Alten, sondern auf demselben Verteilungsproblem, dass auch die anderen Zweige der Sozialversicherung heimsucht. Das hat sicher auch mit der zunehmend ungleichen Verteilung der Einkommen in der Gesellschaft zu tun – aber ganz akut und im Vordergrund ist es auch ein Arbeitslosenproblem.
Denn ein Arbeitsloser bezahlt gar nichts in die Sozialversicherungen ein, bzw. nur noch einen Anteil, der den Verteilungsschlüssel extrem nach unten zieht. „Mehr Kinder“ würden das Rentenproblem also nicht lösen – sondern nur dann, wenn sie auch „mehr Rentenbeiträge“ einzahlen. Da aber nicht einmal die vorhandenen Erwerbstätigen derzeit alle in versicherungspflichtigen Jobs untergebracht werden können, würden zusätzliche Arbeitskräfte, wie sie durch „mehr Kinder“ entstünden, kein zusätzliches Geld in die Rentenversicherung bringen, sondern nur die anderen Sozialkosten zusätzlich ansteigen lassen. Also braucht Deutschland zunächst einmal „mehr Jobs“, und nicht „mehr Kinder“.
Mehr Kinder würden das Problem sogar verschärfen und die Rente nicht sicherer machen, sondern das System endgültig zum Kippen bringen. Um die Rente sicherer zu machen, bräuchte man zunächst einmal mehr Arbeitsstellen, die zur Rentenversicherung beitragen – und am besten eine völlig neue Struktur der Sozialversicherung, der die dort entstehenden gesellschaftlichen Kosten nicht länger nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung umlegt, sondern gerecht auf das gesamte, von der Bevölkerung erzielte Einkommen.
Und genau deshalb wird auch von interessierten Kreisen gerne abgelenkt und über „mehr Kinder“ geredet – weil Kinder sympathisch wirken und sich so ein mehr an Ausbeutung politisch vermittelbar kommunizieren lässt. Außerdem glaubt jeder gerne die simple Rechnung, dass ja die Jungen für die Alten sorgen und dass es deshalb logisch klingt, wenn bei weniger Jungen auch weniger für die Alten da ist. Wer wagt da schon die Frage, welchen alten Rentner der jugendliche Arbeitslose ohne Ausbildung wohl versorgt, wenn er jetzt schon nur noch in staatlich finanzierten Beschäftigungsprogrammen unterkommt?
So schlägt die Diskussion um „mehr Kinder“ aus Sicht der Gewinner der derzeitigen Verteilung des gesellschaftlichen Ertrags gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen verhindert diese Sichtweise eine Diskussion um eine Neuordnung des Systems, indem sie den Blick auf die wahren Zusammenhänge verschleiert. Und zum anderen kann man ganz nebenbei daran arbeiten, als Ausgleich für den „Kindermangel“ die Arbeitslosen von morgen zu sichern, durch avisierte Geburtensteigerung oder Einwanderung. Damit die Lohnkosten niedrig bleiben können und der Verteilungsschlüssel noch weiter zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung verschoben werden kann.