Dienstag, 5. Mai 2015

Wie man eine politische Meinung ändert

Ab einem gewissen Alter, so heißt es, ändert man seine Meinungen nicht so schnell und ist recht festgelegt in seinen Überzeugungen. Und ich war stets ein Gegner des Tarifeinheitsgesetzes.
  Es ist ja nicht so, dass der Staat damit nur die Verhältnisse zwischen den Tarifparteien regelt und für faire Verhältnisse sorgt. Stattdessen ergreift er Partei und beschneidet die Tarifautonomie einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer. Denn genau wie die Gewerkschaften nutzen auch die Unternehmer jeden Vorteil im Tarifstreit - und sitzen meist am längeren Hebel dabei. Sie verlagern Arbeitsplätze ins weitgehend tarif- und gewerkschaftslose Ausland, wann immer sich die Gelegenheit bietet; sie verlassen die Arbeitgeberverbände und kündigen die Tarifbindung, wann immer sie sich stark genug fühlen, im Alleingang mehr für sich durchzusetzen ...
  Warum also sollte man nur die Arbeitnehmer auf einen allgemeinen Tarif verpflichten und ihnen die Möglichkeit nehmen, mehr rauszuholen, wenn sie mal diejenigen sind, die günstige Kräfteverhältnisse mobilisieren können? Ein ausgewogenes Gesetz zur Tarifeinheiten hätte beide Seiten gleichberechtigt gemaßregelt und alle gleichermaßen an einen Tisch gezwungen: Also neben der Tarifeinheit im Betrieb auch eine Mitgliedschaft der Betriebe im für sie maßgeblichen, führenden Arbeitgeberverband festgelegt, mitsamt der Allgemeinverbindlichkeit der damit ausgehandelten Tarife. So, und nur so, wäre ein Tarifeinheitsgesetz fair und ausgewogen.
  Aber das ist es nicht. Die Unternehmen dürfen weiter nach Belieben Rosinen picken. Die Gewerkschaften sollen sich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner richten. Damit ist das Gesetz für mich ein klarer, unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie und ein Unding, das schnellstmöglich verschwinden sollte.
  So habe ich die Streiks bei der Bahn immer verteidigt. Selbst wenn sie sachlich nicht angemessene Eskalationen darstellten (und das war schon bei den letzten "Warnstreiks" der Fall!), habe ich die Verantwortung dafür eher bei der Regierung gesehen. Wenn diese mit dem Gesetz zur Tarifeinheit den Ton verschärft, darf sich niemand wundern, dass der Konflikt eskaliert. Die GdL kämpft nicht nur um den nächsten Tarif, sondern muss sich zugleich für das Tarifeinheitsgesetz positionieren - wer kann es ihr also vorwerfen, wenn ihre Streikmaßnahmen allein in Bezug auf den Tarifstreit betrachtet überzogen wirken?
  Das war meine Meinung bis ungefähr Sonntag.

Aber jetzt ist der Bogen überspannt. Der einwöchige aktuelle Streik lässt jede Verhältnismäßigkeit so weit hinter sich, dass meine Stimmung gekippt ist. Fakt ist, ich will nicht mehr auf Seiten der GdL stehen. Ich will nicht mehr auf derselben Seite stehen wie irgendwer, der auch nur ansatzweise gemeinsame Ziele mit der GdL verfolgt. Und ich will eigentlich auch keine wohldurchdachten, theoretischen Argumente zu dem Thema mehr hören.
  Ich will einfach nur noch, dass dieser tarifkämpferische Amoklauf aufhört und für die Zukunft endgültig unterbunden wird. Dafür halte ich inzwischen so ziemlich jeden politischen Preis für angemessen. Ich wünsche mir also, kurz gesagt, dass das Tarifeinheitsgesetz kommt, dass es vor dem Verfassungsgericht Bestand hat und dass - man wird ja noch wünschen dürfen - die GdL im Sommer mehr oder minder aufhört zu existieren.
  Die damit verbundenen Kollateralschäden halte ich für akzeptabel. Wenn es keinen anderen Weg gibt, exzessives und maßloses Ausnutzen der Tarifautonomie zu unterbinden - und davon hat mich die jetzige Streikwoche überzeugt -, dann meinetwegen auch mit so einer einseitigen Holzhammer-Aktion. Besser Tarifeinheit, als wenn es in Zukunft so weiterläuft wie jetzt. Für mich ist ein Punkt erreicht, ab dem sich selbst meine Grundsätze und Überzeugungen bewegen.

Bedanken muss ich mich für die Überzeugungsarbeit bei der GdL. Mit ihrem Kampf gegen das Tarifeinheitsgesetz unter dem Deckmantel eines Tarifkonflikts hat sie dem Kampf gegen das Tarifeinheitsgesetz einen Bärendienst erwiesen. Denn ich weiß sehr gut, dass ich in meinem Bekanntenkreis in den letzten Jahren schon der einzige war, der bei den Bahnstreiks ein wenig weiter gedacht, die Gründe dahinter gesehen und das Vorgehen der Gewerkschaft 
verteidigt hat.
  Wenn selbst ich das jetzt nicht mehr kann, wo soll dann noch ein gesellschaftliches Verständnis und ein Rückhalt für die Anliegen der Gewerkschaft herkommen? Und diese Folge betrifft nicht nur die GdL, sondern die Spartengewerkschaften und die Anliegen der Arbeitnehmer insgesamt.
  In der Presse bekomme ich mit, wie manch einer die nicht mehr zu leugnenden Übertreibungen allein auf den Vorsitzenden der GdL begrenzen möchte. Das lehne ich ab. Alle Gewerkschaftsmitglieder haben die Streikpolitik der GdL per Abstimmung legitimiert. Jedes einzelne Mitglied kann bei jedem Streik seine eigene Entscheidung zur Teilnahme treffen - bei mangelndem Rückhalt müsste die Gewerkschaftsspitze reagieren. Sollte das im Laufe der Woche passieren, ändere ich meine Meinung vielleicht wieder. Immerhin würde das beweisen, dass Gewerkschaften als Organisation doch verantwortungsbewusst mit der Tarifautonomie umgehen, selbst wenn sie nicht dazu gezwungen werden. Im Moment muss ich leider vom Gegenteil ausgehen. 
 
Bis dahin bleibt erst mal als Fazit: politische Anliegen lassen sich nur bedingt "erstreiken". Der Kampf gegen die Tarifeinheit hätte vor allem politisch oder gerichtlich geführt werden müssen; ein wenig Disziplin und Augenmaß beim Arbeitskampf wären der Sache da dienlicher gewesen.
  So, wie die Dinge nun stehen, werden die Richter in Karlsruhe hoffentlich an die derzeitige Streikwoche zurückdenken, wenn sie über die Tarifeinheit zu entscheiden haben. Den Gegnern des Tarifeinheitsgesetzes bleibt eigentlich nur die Hoffnung, dass Karlsruhe rein formaljuristisch entscheidet - denn, wie eingangs gesagt, theoretisch spricht schon einiges gegen das Gesetz, auch wenn die Praxis inzwischen gezeigt hat, dass es ohne wohl nicht geht.
  Wie gesagt, ich zähle heute nicht mehr zu den Gegnern des Gesetzes. Ich hoffe, dass die Richter in Karlsruhe Bodenhaftung zeigen und an den praktischen Nutzen für die Gesamtgesellschaft denken. Und dann muss man eigentlich jede Möglichkeit nutzen, um zu verhindern, dass kleinste Gruppen die Gesamtgesellschaft in Geiselhaft nehmen können - selbst wenn diese Möglichkeiten auch ihre Schwächen haben und man ihnen nicht ohne Magengrummeln zustimmen kann.