Samstag, 11. Februar 2006

Wirtschaftsjournalist oder Milchmädchen?

Heute widme ich mich mal wieder der kritischen Betrachtung meiner Tageszeitung. Das hatte ich schon lang nicht mehr ... nicht, dass es keinen Anlass gegeben hätte ;-) Aber keinen, der es geschafft hätte, mich gegen meinen Zeitmangel zum Schreiben zu bewegen. Heute kam es mir aber doch zu dumm.
  »Wer netto etwa 150.000 Euro Abfindung erhalten hat«, so stand im Kölner Stadt-Anzeiger zu der 200.000-Euro-Abfindung der Telekom zu lesen, »kann bei einer Entnahme von 1.500 Euro pro Monat etwa 100 Monate ... lang leben.« Und weiter wird das Horrorszenario gesponnen: »Ist der ausscheidende Telekom-Mitarbeiter 52 Jahre alt, kommt er ... aus, bis er 60 oder 61 Jahre alt ist.«
  Moment – hallo? Wo bewahrt denn dieser Telekom-Mitarbeiter sein Geld während der 8 Jahre auf? Im Sparstrumpf unter dem Bett? Da würde ich doch sagen, wenn einer so viel wirtschaftlichen Unverstand beweist, tut die Telekom gut daran, diesen bildungsunfähigen Mitarbeiter so rasch wie möglich loszuwerden.
  Aber gemach, gemach – ich glaube nicht, dass der ausscheidende Mitarbeiter, der seine Abfindung kassiert, wirklich so dumm ist, wie ihn der Autor des Artikels hier rechnen möchte. Denn natürlich kann man mit so einer Abfindung auch was Sinnvolles anfangen.
  Was ich so an Geld angelegt habe, hat im letzten Jahr eine Rendite von ca. 40% erwirtschaftet. Ein solcher Ertrag war im vorangegangenen Jahr nicht schwer zu erzielen – man musste schon eher mit seinem Anlagevermögen vor den Kurssteigerungen fortlaufen, um ihn zu vermeiden ;-) Bei einer solchen Rendite würde eine »Netto-Abfindung« von 150.000 Euro sogar bis zum Sankt-Nimmerleinstag eine auskömmliche Rente versprechen.
  Aber natürlich liegt der real zu erwartende Ertrag irgendwo zwischen diesen beiden Extremen – also zwischen der sehr positiven Entwicklung des Kapitalmarktes im letzten Jahr und der Grundschul-Mathematik des Zeitungsartikels. Ich würde mal sagen, eine langfristige Rendite von ca. 7% wäre realistisch zu erzielen. Wenn also der ehemalige Mitarbeiter seine 150.000 Euro derart auf breit gestreuter und auf Sicherheit bedachter Basis anlegt, kann er bei monatlicher Entnahme von 1.500 Euro durchaus annähernd die Zeitspanne zwischen dem 52. und dem 65. Lebensjahr überbrücken. Wenn man davon noch ein (vielleicht verkürztes) Jahr Arbeitslosengeld abrechnet, dann sollte sich die Abfindung sogar ganz gut bis zur Rente strecken lassen. Bei konservativem Anlageverhalten und vernünftiger Berechnung, wohlgemerkt.
  Warum also stellt der Autor des Zeitungsartikels so eine buchstäbliche Milchmädchenrechnung auf? Wahrscheinlich um der Dramatik willen, und damit er später im Artikel die furchtbarsten Folgen an die Wand malen kann. Leider wird es ein Horrorszenario auf dem Niveau eines C-Picture-Horrorfilmes: Man hat ständig das Gefühl, all das Grauen käme nur deshalb zustande, weil sich die skizzierten Akteure so unsäglich blöd verhalten. Im Horrofilm laufen sie alle einzeln in den Wald und dem Monster so lange hinterher, bis sie schließlich gefressen werden. Im Zeitungsartikel sieht der abgefundene Mitarbeiter nur tatenlos seinem Geld hinterher und merkt nach 10 Jahren schließlich: »Upps, alles weg.«
  Das Mitgefühl für die Betroffenen hält sich in beiden Fällen in Grenzen; und rechte Spannung will sich auch nicht einstellen. Und auch wenn ich in letzter Zeit oft genug ein Abdriften der Zeitung mit dem wirtschaftsliberalen Zeitgeist beklagt habe – das heißt keinesfalls, dass ich lieber plumpe, linkskonservative Dummrechnerei auf dem Niveau von Gewerkschaftsfunktionären der letzten Generation lesen möchte! In meiner Zeitung will ich keinen C-Niveau-Grusel, sondern an der Wirklichkeit orientierte Information.


So bleibt der Informationswert des Artikels also noch unter dem Niveau dessen, was ich schon vorher als Allgemeinbildung bezeichnet hätte. Viele interessante Informationen, die mich noch interessiert hätten, fehlten allerdings. So weist der Autor darauf hin, dass bei einer Abfindung von 200.000 Euro ca. 50.000 Euro Steuern fällig wären – da wäre es doch nett gewesen, Alternativen zu diskutieren; ob sich beispielsweise über eine Stiftung oder Verrentung der Beträge ein für den Arbeitnehmer günstigeres Ergebnis erzielen ließe?
  Und bei der Diskussion möglichst unrealistischer Gruselszenarien fiel ganz unter den Tisch, welche realen Gefahren vielleicht auf denjenigen warten, der die Abfindung akzeptiert. Alles, was in dem Artikel genannt wurde, war die Krankenversicherung. Gut. Und wir wissen jetzt, was für Gefahren den 52 jährigen Arbeitslosen erwarten, wenn er sich fahrlässig dumm verhält und in Frührente gehen muss. Aber was erwartet ihn beispielsweise, wenn er sich vernünftig verhält und mit 65 in Rente gehen kann – dann aber davor ca. 15 Jahre nicht mehr gearbeitet hat und dementsprechend auch diese Versicherungszeiten wegfallen?
  Der Schreiber des Artikels schafft es also weder, mir als informiertem Leser etwas Interessantes Neues zu verraten, noch schafft er es auch nur, den schlechter informierten Leser auf einen zeitgemäßen Wissensstand zu diesem aktuellen Thema zu bringen. Stattdessen liefert er dramatische Horrorstories und Milchmädchenrechnungen, die nur mit Spuren von wirtschaftlicher Fachkunde angereichert werden. Aber konkrete Recherche und sachgerecht berechnete Szenarien hätten vermutlich Zeit und Geld gekostet.


Zwei Dinge übrigens, die ich als Leser in die Zeitung investiere und darin auch wiederfinden möchte.

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