Donnerstag, 7. September 2006

Auf dem Räubermarkt

Vor kurzem ist es den Schlechtmenschen wieder mal gelungen, in meiner Tageszeitung einen Tendenzartikel zu platzieren. "Mehr Eigenverantwortung und Markt" wurde darin empfohlen, als Lösung für die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung. Nun ist Eigenverantwortung ja grundsätzlich wünschenswert, und marktwirtschaftliche Elemente können im Gesundheitswesen überbordenden Kosten für Bürokratie und Monopolismus entgegenwirken.
  Ein Allheilmittel allerdings sind sie nicht. Es lässt sich recht einfach zeigen, dass "Markt und Eigenverantwortung" ihre Grenzen haben und staatliche Regelung in gewissen Situationen sinnvoll ist. Als plastisches Beispiel stelle ich mir nun mal den Straßenräuber vor, der mit der Pistole dem Opfer auflauert und "Geld oder Leben" fordert.
  Wann werden die Schlechtmenschen auch hier die staatliche Regulierung des Marktes für Straßenräuberei beklagen? Wann werden sie fordern, das Geld für die Rechtspflege zu sparen und auf die Eigenverantwortung der Opfer setzen? "Markt" würde dann bedeuten, dass Täter und Opfer frei aushandeln dürfen, was denn das Leben des Überfallenen wert ist. Und auch die Eigenverantwortung hält viele Lösungen bereit: Das Opfer kann selbst eine Waffe mitnehmen, oder es bleibt gleich ganz zu Hause. So gestaltet sich also eine freie Gesellschaft ganz nach Markt und Eigenverantwortung.
  Aber keine Sorge, das absolute Primat von "Markt und Eigenverantwortung" führt keinesfalls automatisch zurück in die Steinzeit. Es hält auch zivilisierte Ansätze bereit: Schutzgelderpressungen - die neoliberale Kriminalitätsgestaltung par excellence, in freier Wettbewerbsgestaltung zwischen Täter und Opfer.


Wer das als Ideal nicht teilen kann, der muss akzeptieren, dass es für "Markt und Eigenverantwortung" Grenzen geben muss - nämlich immer dann, wenn ein Ungleichheitsverhältnis der Vertragspartner eine wirkliche freie Absprache verhindert; oder wenn ein wild wuchernder Markt nur den Interessen einzelner dienen würde und nicht mehr der Gemeinschaft als solcher.
  Im Gesundheitswesen ist meiner Einschätzung nach beides der Fall. Wenn der Kranke zum Arzt geht, befindet er sich in einer Ausnahmesituation. Es ist den Anbietern im Gesundheitswesen ein leichtes, mit Angst und Druck zu operieren, während der Patient den Fachleuten weitestgehend ausgeliefert ist. Natürlich kann der Kranke sich kundig machen und als gut informierter Kunde auftreten - aber es ist immer noch sein Leben, mit dem er für Fehler einsteht und das er im Zweifel als Laie gegen die Fachleute in die Waagschale werfen muss, wenn er selbst die Entscheidung treffen will, was zu welchem Preis medizinisch notwendig ist.
  Es sollte also niemand daherkommen und mir erzählen, dass "Markt und Eigenverantwortung" auch das Gesundheitswesen regulieren können, nur weil das bei Fernsehgeräten schon so gut funktioniert. Denn bei Fernsehgeräten kann der Verkäufer zwar behaupten, dass ich tot umfalle, wenn ich den neuen Fernseher nicht kaufe - aber nur im Gesundheitswesen verwischen in solchen existenziellen Fragen die Grenzen zwischen "Werbung" und "Beratung". Damit befindet sich der Patient in einer subjektiven "Geld oder Leben"-Situation und hat deshalb auch das Recht darauf, vor einem freien Wechselspiel von "Markt und Eigenverantwortung" ebenso gut geschützt zu werden wie in obigem Straßenräuber-Beispiel.
  Nun ja, Markt und Eigenverantwortung in kontrolliertem Umfang können das System aufbessern. In welchem Umfang, darüber lässt sich diskutieren. Auf keinen Fall aber sollte man sich von den Schlechtmenschen einreden lassen, dass die Marktsituation im Gesundheitswesen mit anderen Geschäftsbereichen selbstverständlich vergleichbar sei. Und dass "Markt und Eigenverantwortung" ein nicht hinterfragbares Primat vor externer Lenkung und Kontrolle zukäme.


Wer nun immer noch an die neoliberale Mär vom "gleichberechtigten Patienten" glauben will, der sollte sich nur mal anschauen, wie die Diskussion um "Markt und Eigenverantwortung" im Gesundheitswesen geführt wird - nämlich genau so einseitig, wie es der Ungleichheit zwischen Kunde und Anbieter in diesem Markt auch entspricht. Denn von "Eigenverantwortung" ist immer nur dann die Rede, wenn der Patient bezahlt. Eigenverantwortliche Gestaltung einer Therapie wird hingegen gar nicht gerne gesehen.
  Angeblich soll der Patient selbst entscheiden können, ob er ein Präparat braucht, dass der Arzt ihm verschreiben will - andererseits soll er aber nicht in eigener Verantwortung ein "verschreibungspflichtiges" Präparat erwerben dürfen, wenn er glaubt, dass er es braucht. Das Primat des Arztes wird in der Diskussion um die "Eigenverantwortung" niemals angetastet. Wie aber kann man von einem gleichberechtigten Markt reden, wenn man den Kunden auf die Wahl beschränken will: "Tue, was der Arzt dir sagt - oder lass es bleiben"?
  Wenn man den Patienten für kompetent genug hält, dem Arzt gleichberechtigt gegenüberzutreten, dann muss man ihm auch sämtliche Behandlungsoptionen freistellen - notfalls auch die Entscheidung, ob er überhaupt den Arzt als Dienstleister hinzuziehen möchte. Wenn man ihm allerdings (wofür es durchaus gute Gründe gibt) diese Kompetenz nicht zubilligt, dann sollte man auch mit der Augenwischerei einer "gleichberechtigten Marktsituation" aufhören und eingestehen: Die Forderungen, die sich daraus ergeben, sind grob unbillig - und eine tatsächliche freie Marktsituation ist überhaupt nicht gewollt.
  Denn das Ungleichgewicht in der Diskussion zeigt deutlich, worum es eigentlich geht: nicht um "Markt und Eigenverantwortung", sondern um die Ausweitung der Pfründe für die stärkeren Marktteilnehmer durch weitere Inidividualisierung und Zersplitterung der "Melkkuh Patient".

Keine Kommentare: