Montag, 6. November 2006

Warum Demokratie nicht funktioniert

Der neueste Skandal um John Kerry, den früheren Präsidentschaftskandidaten in den USA, hat es mir mal wieder gezeigt. Denn niemand hat den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen bestritten – dass nämlich im Durchschnitt eher Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad zu den Streitkräften gehen –, aber genau diese Wahrheit darf niemand ungestraft aussprechen. Weil diese Soldaten etwas für ihr Land tun, sollen sie vor allem geschützt sein, was ihren persönlichen Wert in Frage stellt. Und dieser Schutz erstreckt sich auch auf unanangenehme Wahrheiten.
  Das mag richtig sein, und es mag auch eine politische Dummheit Kerrys gewesen sein, diese Wahrheit trotzdem anzusprechen. Trotzdem legt der ganze Vorfall den Finger auf eine Wunde des Systems: Ein Politiker hat eine Wahrheit ausgesprochen, und dafür wird er vom Wähler abgestraft. Schon bei Kerrys Präsidentschaftskandidatur gab es ähnliche Vorfälle. Wenn Kerry beispielsweise Windsurfen geht, so mag das nicht dem Mehrheitsgeschmack seiner Wähler entsprechen – aber dafür entspricht es seinen tatsächlichen Interessen und ist ehrlich, während ein Besuch bei einem Baseballspiel Heuchelei gewesen wäre. Trotzdem ist genau diese Anbiederung das, was die Wähler sehen wollen und was sie wählen – nicht die Ehrlichkeit.
  Und da wundert man sich über die fehlende Ehrlichkeit der Politiker? Darüber, dass die Politik trotz Demokratie nicht macht, was der Wähler will, ihn sogar nach Strich und Faden verarscht? Nun, daran sind nicht »die da oben« Schuld, keine finsteren Verschwörungen oder dubiose Lobbywühlereien. Es ist der Wähler selbst, der diese Politik wählt – nicht, weil er unschuldig getäuscht wird oder weil er keine echte Wahl hätte, sondern weil er ganz bewusst Lügen und Heuchelei honoriert und sich damit selbst die Politiker heranzüchtet, die er verdient.
  Solche Vorfälle werfen bei mir also die Frage auf, ob die »unehrlichen« Politiker tatsächlich die Wähler täuschen – oder ob sie nicht vielmehr einen Bedarf erfüllen und genau dem Wählerwillen entsprechen.


Nun, das sind vielleicht die USA, mag mancher sagen. Aber das nächste, woran ich nach Kerrys Fettnäppfchen denke, ist die erste deutsche Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung. Ich erinnere mich sehr gut, wie sich kurz nach der Wahl die ganze Republik und auch genug Leute aus meinem Bekanntenkreis über »Kohls Wahlbetrug« aufgeregt haben, weil seine wahrhaft großartigen Wahlversprechen samt und sonders auf dem Müll lagen.
  Aber ich kann da nur die Frage stellen, die ich damals schon gestellt habe: Ist es wirklich Betrug, wenn jemand Lügen erzählt, die jeder hören will, aber auch mühelos und mit einem Minimum an Sachkenntnis durchschauen kann? Denn schon im Wahlkampf wusste man, das Kohls Versprechen so nicht umsetzbar sind; und es wurde in den Medien oft genug analysiert und war für jeden nachzulesen.
  Trotzdem entschied sich die Mehrheit, die offensichtliche Lüge zu wählen, um sich später darüber aufregen zu können.


Wenn man sich also fragt, warum die Demokratie nicht funktioniert – zumindest nicht ihren Ansprüchen genügt und die Politik umsetzt, die das Volk tatsächlich haben möchte, dann darf man nicht auf die Politiker schauen, sondern zuallererst auf das Volk.
  »Dann geh doch selbst in die Politik«, rät manch einer dem Unzufriedenen, und natürlich ist das Blödsinn. Denn auch in einer funktionierenden Demokratie kann nicht jeder etwas bewirken, und ein Politiker benötigt zuallererst die Fähigkeit zum Netzwerken, zur Klüngelei, um überhaupt ein Bein auf den Boden zu kriegen. Die hat nicht jeder, und wer sie nicht hat, kann gleich Wähler bleiben.
  Aber auch als Wähler könnte man die Politik erziehen und tut es auch; das allerdings funktioniert nicht als Einzelperson, sondern nur dann, wenn viele Einzelne in die richtige Richtung ziehen. Und genau da geschieht eher das Gegenteil. Denn offenbar besteht eine Mehrheit der Wähler nicht aus verantwortungsvollen, informierten Bürgern, die mit ihrer Stimme Einfluss nehmen wollen, sondern aus Leuten, die die Wahrheit gar nicht hören wollen und so auch keine politischen Entscheidungen treffen können. Die Demokratie scheitert also daran, dass die Wähler zu dumm und uninteressiert sind – alles andere sind bloße Folgefehler.
  Traurig ist dabei allerdings, dass nicht einmal eine wirkliche Mehrheit an Wählern nötig ist, um die gesamte Demokratie in diese Irre straucheln zu lassen. Wieviele Wähler wählen tatsächlich nicht politisch, sondern verwechseln Wahlen mit einer Gesichterparade oder der Münchhausen-Show? Gewiss nicht alle Wähler, aber schon 50% oder gar 30%, die den besten Lügner wählen, reichen aus, um diesem Politikerschlag dauerhaft die Mehrheit zu sichern. Und wie sollte ein Politiker überhaupt die Chance haben, dem demokratischen Mehrheitswillen zu folgen, wenn so viele Wähler sich gleich von ihm ab und dem nächsten Poser zuwenden, sobald er ihnen die politische Realität vorstellt und ihre Meinung dazu hören will?
  Und deshalb liegt die Krise der Demokratie nicht bei der Politik oder den Parteien. Sie liegt beim Wähler. Und entspricht damit wohl selbst wiederum einem demokratischen Konsens.

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