Heute konnte ich in der Zeitung einen Artikel lesen, der schon irgendwie bemerkenswert ist. »Für die Hirnforscher ist der Streit entschieden«, hieß es da. »Eine Wahlfreiheit gibt es nicht.« Was wir tun und was wir denken – all das wird in unbewussten Prozessen im Gehirn schon festgelegt, und unser Ich kann dem nur hinterherhecheln, ohne es zu beeinflussen.
Nun, diese Erkenntnis lese ich nicht zum ersten Mal. Interessant fand ich allerdings die Reaktion der Philosophen auf den Forschungsstand der Neurologie: Sie wollen an der Kölner Uni Vorträge halten, »die belegen, dass der Mensch selbstbestimmt handelt.«
Nun, die Philosophie, an die ich mich erinnere, war im Grunde die Speerspitze der Wissenschaft. Sie nahm die Phänomene unserer Lebenswirklichkeit und dachte sie weiter, über die Grenzen hinweg, die die materielle Wirklichkeit uns setzt. Und damit konnte die Philosophie Modelle entwickeln, mit denen man in Zukunft die Wirklichkeit besser erfassen konnte – und sie konnte zugleich Modelle für das Tun liefern, die sich aus dem bloßen Sein niemals ableiten lassen.
Und was geschieht jetzt? Die Philosophie trifft sich ganz bewusst, um den Stand der Forschung unserer materiellen Umwelt zu verleugnen, schöne Träume zu hegen und sich in trotziger wie tröstlicher Ignoranz zu üben ... so jedenfalls müsste man es verstehen, wenn alles stimmte, was in der Zeitung steht.
Doch gemach, gemach: Vielleicht hat der Schreiber des Artikels sich nur ein wenig unklar ausgedrückt. Vielleicht ist der naturwissenschaftliche Streit noch gar nicht so entschieden, wie die Wortwahl glauben macht. Womöglich lassen die Erkenntnisse der Neurologen doch noch einen Spielraum, den die Philosophen nutzen. Und vielleicht wollen die Philosophen ja gar nicht mit einem trotzigen »Trotzdem« den Stand der Gehirnforschung leugnen, sondern tatsächlich auf dem neuesten Stand der Wissenschaft weiterdenken.
Eigentlich würde ich einen Zeitungsartikel nicht so ernst nehmen. Aber leider passt er zu anderen Erfahrungen, so zum Beispiel zu einer philosophischen Betrachtung des freien Willens, den ich jüngst im Feuilleton der Süddeutschen lesen konnte und wo der Autor genau das getan hat, was ich angesichts des heutigen Artikels auch für die Vortragsreihe an der Kölner Uni befürchte: Er hat sich darin erschöpft, die Realität schlicht abzuleugnen. Der Trick war ganz einfach: Er hat zunächst einmal den freien Willen ganz anders definiert, als er gemeinhin verstanden wird. Und dann konnte er mühelos belegen, dass die Hirnforscher sich geirrt haben und der freie Wille doch existiert.
Eine rhetorische Nebelbombe; Schönrednerei; ein Nicht-sein-kann, was nicht sein darf. Wenn ich eine Maus einen Löwen nenne, dann kann ich natürlich auch beweisen, dass in Deutschland noch Löwen in freier Wildbahn leben – nur über die tatsächlichen Löwen sagt das überhaupt nichts aus.
Von einer Wissenschaft, auch von der Philosophie, erwarte ich schon, dass sie die geprüften Fakten akzeptiert. Dass sie ihr Zustandekommen hinterfragt, andere Perspektiven aufzeigt, sie relativiert, neue Modelle ersinnt, die sie in ein anderes Licht setzen – das alles ja. Aber nicht einfach ableugnet oder ignoriert, vernebelt und drumherumredet. Wunschdenken an Stelle von Stringenz setzt. Alte Bilder abstaubt und vor die Fenster hängt.
Die Philosophie, so wie ich sie verstehe, bot immer schon antworten für die Gegenwart und die Zukunft; Antworten auf ewige Fragen des Menschen, die aber der Konfrontation mit seinen zeitlichen Erfahrungen standhalten können.
Wenn das nicht mehr so ist, dann ist die Philosophie tatsächlich eine tote Wissenschaft.
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