Was in der Theorie gut klingt und ein lobenswerter Ansatz ist, zeigt seine Probleme erst in der Umsetzung. Mit der Einführung der „offenen Ganztagsschule“ in Nordrheinwestfalen sollte nämlich genau ein Schritt in die jetzt von unserer Familienministerin angedeutete Richtung getan werden – und deshalb lässt sich hier auch abschätzen, wohin dieser Weg führt.
Hier lässt sich nämlich beobachten, dass die Ausweitung der Betreuung zu Lasten der erzieherischen Qualität geht – weil nämlich für die zusätzlichen Betreuungsplätze nicht im gleichen Umfang zusätzliche Gelder zur Verfügung gestellt werden, sondern stattdessen teuere und höherwertige Erziehungsangebote reduziert oder ganz geschlossen werden, um dafür mehr billige Plätze anbieten können. Vor diesem Hintergrund sind also zwei Fragen zu beantworten: Ist es das, was sich Frau von der Leyen auch für ihre Initiative gedacht hat? Und, wenn ja, wo genau liegen die Nachteile?
Mir persönlich fallen zunächst einmal drei Gruppen ein, wenn ich an Erziehungs- oder Betreuungsangebote denke: Zunächst einmal überforderten Familien, die in letzter Zeit ebenfalls Schlagzeilen machen – nämlich mit spektakulären Fällen von Verwahrlosung. Mitunter geht das zu Lasten der Kinder, mitunter aber auch zu Lasten der Gesellschaft – wenn auf diese Weise jugendliche Intensivstraftäter herangezogen werden.
Oft genug leiden Kinder und Gesellschaft gleichermaßen, wenn nämlich die Erziehungs- und Integrationsdefizite der Kinder aus diesen Familien so groß sind, dass nicht nur sie selbst bei Eintritt in die Schule schon aufs Abstellgreis geraten, sondern auch noch das Niveau um sich herum so weit nach unten ziehen, dass sie andere Kinder mit hinabziehen. Solche Defizite mögen vor unterschiedlichem Hintergrund vorkommen – trotzdem möchte ich mir mal erlauben, diese Fälle mit den derzeit ebenfalls diskutierten Schlagworten „Migrationshintergrund“ und „Unterschichtendebatte“ in Verbindung zu bringen.
Als zweite „Familiengruppe“ würde ich dann erfolgsorientierte Familien mit zwei berufstätigen Partnern nennen, oder auch einem alleinerziehenden, aber karriereorientiertem Elternteil.
Und eine dritte Gruppe wäre dann die „klassische“ Familie, wo ein Elternteil zu Hause bleibt und die Erziehung selbst leitet, und auch durchaus dazu in der Lage ist – aber womöglich unterfordert und bei besseren Betreuungsmöglichkeiten in Gruppe 2 „aufsteigen“ könnte.
Vielleicht habe ich etwas übersehen und es gibt noch weitere „Familiengruppen“. Eines sollte allerdings klar sein: Diese unterschiedlichen Ausgangslagen lassen sich nicht über einen Kamm scheren, sondern sie erfordern grundsätzlich unterschiedliche Angebote. Für Kinder der „Gruppe 2“ mag eine einfache Betreuung ausreichen, weil die Eltern womöglich neben der Erziehung noch eingespannt sind, aber trotzdem in der Lage sind, den Kindern auch noch eigenständig etwas zu vermitteln – und sei es auch nur durch ihr aktives Vorbild und ihre Möglichkeit, selbst zusätzliche Förderungsmöglichkeiten zu organisieren.
Für die Kinder der „Gruppe 1“ reicht Betreuung aber keinesfalls: Sie brauchen nicht nur Betreuung, sondern Erziehung und hochwertige Fördermaßnahmen. Bei einer breiteren Betreuungsbasis sollte sichergestellt sein, dass diese Maßnahmen dann nicht außen vor bleiben.
„Gruppe 3“ mit dem „erziehenden Elternteil“ kann vielleicht von den Betreuungsmaßnahmen profitieren. Trotzdem sollten diejenigen Eltern nicht übersehen werden, die sich trotzdem noch selbst um ihre Kinder kümmern wollen und dazu auch in der Lage sind. Und diese Familien können am besten von Unterstützung profitieren – sei es in Form unmittelbarer finanzieller Zuwendungen, oder in Form subventionierter Kursangebote wie Musikschulen etc.
Es stellt sich also die Frage, wie Frau von der Leyen sich die Austarierung der unterschiedlichen Anforderungen dieser unterschiedlichen Arten von Familie gedacht hat. Hier in NRW wird derzeit viel über verbesserte Förderung der „Gruppe 1“ geredet – beispielsweise durch vorschulische Tests und ggf. „Kindergartenpflichtzeiten“. Tatsächlich aber sind zugunsten der offenen Ganztagsschule erst mal Mittel weggefallen, die bisher für andere pädagogische Konzepte zur Verfügung standen; und es wurden auch Angebote reduziert, die vorher die Eltern nutzen konnten, die sich selbst um die Erziehung ihrer Kinder kümmern wollen.
Frau von der Leyen zählt selbst zur „zweiten Gruppe“, kann förmlich als Musterbeispiel für diesen Typus herhalten. Es kommt mir daher zunächst mal sonderbar vor, dass von ihren Vorschlägen, soweit ich sehen kann, gerade auch diese „Gruppe 2“ am ehesten profitiert – und dass sich aus meinen bisherigen Erfahrungen der Eindruck ergibt, dass die anderen Gruppen die Kosten dafür zu tragen haben werden.
Es würde Deutschland sicher nicht schaden, mehr Mittel in die Erziehungs- und Bildungspolitik zu lenken. Wenn die diskutierten Vorschläge von Ursula von der Leyen allerdings ausschließlich oder auch nur zu einem Großteil durch bloße Umschichtungen innerhalb des Ressorts finanziert werden sollen, sähe das für mich nach einem erstklassigem Fall von Klientelpolitik aus: den andern wird's genommen, um es der eigenen Gruppe zu geben. Das jedenfalls kann keine sinnvolle Politik sein, selbst wenn die geförderte Gruppe tatsächlich einen förderungswürdigen Lebensstil vertritt – und damit greift die derzeitige Diskussion, die sich nur darauf beschränkt, zu kurz.
Ich denke also, dass unsere Familienministerin zumindest mehr Distanz von der eigenen Person an den Tag legen und deutlich machen sollte, wie sie die Ausgewogenheit der unterschiedlichen Familienfördermaßnahmen zu sichern gedenkt. Bis jetzt jedenfalls hatte ich eher den Eindruck, dass hier nach dem Motto verfahren wird: An meinem Wesen soll die Welt genesen.
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