Dienstag, 20. Januar 2015

Kulturschock der Woche

Den bekam ich gestern, als ich auf rp-online den folgenden Satz zur Absage der Demonstrationen in Leipzig nach Anschlagsdrohungen las: "Bei der Abwägung zwischen freier Meinungsäußerung und öffentlicher Sicherheit muss die Gefahrenabwehr absoluten Vorrang haben."
  Ja holla! Da musste ich gleich draufklicken und genauer nachlesen, weil ich nicht glauben konnte, was da stand. Hat da tatsächlich ein Journalist auf der Webseite einer etablierten Zeitung eine Aussage getroffen, die sinngemäß in etwa einem apodiktischen "Bei der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit muss immer zugunsten der Sicherheit entschieden werden" entspricht?
  Das ist, wohlgemerkt, nicht einfach nur eine weitere zulässige Meinung im aktuellen Diskurs. Jedem, der auch nur über mindere Kenntnisse in der Geschichte politischer Ideen und Philosophien verfügt, sollte klar sein, dass diese Aussage in ihrer absoluten Form einer Forderung nach der Abschaffung unserer freiheitlichen demokratischen Werteordnung gleichkommt. Es ist also ein Statement, das mit dem Anspruch der Presse als "Wächter der Demokratie" grundsätzlich nicht vereinbar ist.

Nun gehe ich mal davon aus, dass das so nicht gemeint war. Zugunsten des Schreibers will ich mal unterstellen, dass er einfach nicht zuende gedacht hat, was er da eigentlich schreibt. Dass er in Wahrheit nur eine Aussage zu diesem speziellen Einzelfall treffen wollte und diese im Überschwang der Gefühle einfach als allgemeingültigen Lehrsatz formuliert hat.
  Ich halte es sogar für sehr gut möglich, dass dem Autor einfach der Hintergrund fehlte, um überhaupt zu beurteilen, was er da schreibt - das, was früher mal als "humanistische Bildung" bezeichnet wurde, die geisteswissenschaftlichen Grundlagen, die nötig wären, um die Begrifflichkeiten zu verorten und überhaupt zu wissen, was für eine lange philosphische Vorgeschichte an dem Diskurs dranhängt und in welche Richtungen das Thema bereits ausgelotet wurde, was für Folgen und Entwicklungen und ideologische Hintergründe da jeweils mit verbunden sind ... all das lässt sich heutzutage ja nicht mehr bei jedem Zeitungsschreiber voraussetzen.
  So wenig im Übrigen wie sprachliche Kompetenz. Vielleicht wollte der Autor die "Gefahrenabwehr" nicht allgemein, sondern nur ganz speziell verstanden wissen und hatte nur keine Ahnung, wie er seine Aussage in dieser Hinsicht allgemeinverständlich präzisieren kann. Als Schlussredakteur habe ich das ja mitunter schon erlebt - dass man den Autor auf einen Mangel aufmerksam macht, und dann zu hören bekommt: "Aber eigentlich wollte ich damit nur sagen ...", oder: "Damit meine ich nur ..."
  Was soll man darauf antworten, außer: "Wenn du das meinst oder sagen willst, warum schreibst du es dann nicht so hin?"
  Ich bin also bereit, das nicht als ernsthaft durchdachte Meinung zu werten, sondern mehr als spontanen Ausruf, irgendwo zwischen bewusster Übertreibung, gedankenloser Verallgemeinerung und blanker Ahnungslosigkeit angesiedelt.

Trotzdem markiert es einen Tiefpunkt im Rahmen eines Pressewesens, das immer noch den "Qualitätsgedanken" als Argument für die eigene Bedeutung anführt. Und ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Der Tag, an dem ich so eine Aussage von einem Journalisten geschrieben im politischen Teil einer Zeitung oder im Umfeld der Leitartikel lese, ist der Tag, an dem ich zu dem Schluss kommen werde, dass Zeitungen jetzt komplett überflüssig geworden sind.
  Zum Glück habe ich den Satz aber nur in einem Kommentar auf der Webseite dieser Zeitung gefunden und kann noch hoffen, dass diese Kurzschluss-Schreibe es nicht in die gedruckte Ausgabe geschafft hat. Oder allenfalls in die Leserbriefspalte des Lokalteils, oder so was.
  Die Hoffnung auf den Qualitätsvorsprung des gedruckten Wortes stirbt bekanntlich zuletzt.
 

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