Samstag, 31. Dezember 2005

Gott lebt ...

Das ganze fing irgendwann in den frühen 90ern an; ich habe die Schlagzeilen in der Zeitung wahrgenommen, aber mir noch nicht viel dabei gedacht – vor allem habe ich damals, bei diesem ersten Vorkommen, keinen Trend herausgelesen.
  Wenn ich mich recht entsinne, spielte sich dieser erste Vorfall im Iran ab: Es gab dort eine Untersuchung der staatlichen Fluggesellschaft, die erhebliche technische Mängel und Sicherheitsrisiken zutage förderte. Keine Ahnung, warum das überhaupt in einer deutschen Zeitung stand – vermutlich als Information für Touristen, die mit eben dieser Linie im nahen Osten unterwegs sein wollten. Ein unscheinbarer Artikel, der auch ein ebenso unscheinbares Zitat des zuständigen iranischen Ministers enthielt: Dieser verwehrte sich gegen die Unterstellung von Sicherheitsmängeln und betonte, dass die Flugzeuge seines Landes absolut sicher sind.
  Etwa eine Woche später stürzte er mit eben einer dieser Maschinen ab.
  Als ich diese zweite Nachricht in der Zeitung las, empfand ich das Zusammentreffen schon als merkwürdig. Ich erinnere mich, dass ich damals schon dachte: »Gott lebt.«
  Und dass es ja eigentlich nicht verkehrt ist, wenn Politiker damit rechnen müssen, dass leichtfertige öffentliche Aussagen auf solche Weise sogleich wie durch höhere Gewalt kommentiert werden.


Zunächst einmal ein Einzelfall. Aber die Einzelfälle dieser Art häuften sich. Wie beispielsweise jener südamerikanische Minister, der auf dem Höhepunkt eines Fischskandals öffentlichkeitswirksam mitsamt seinem Sohn vor laufenden Kameras frisch gefangenen Fisch verspeiste und allen seinen Wählern demonstrierte: »Unser Fisch ist sicher.« Und ein paar Tage später konnte man lesen, dass dieser Minister mitsamt seinem Sohn wegen genau der Parasitenkrankheit, um die es bei dem Skandal ging, ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
  Wie gesagt, es ist nicht so, dass ich solche Berichte besonders verfolgt hätte, mir notiert; am Anfang habe ich tatsächlich nicht mehr darin gesehen als skurrile Einzelfälle – und ich weiß auch nicht mehr genau, was tatsächlich der erste Vorfall dieser Art war, den ich mitbekommen habe. Aber seit den 90er habe ich doch oft genug von solchen Dingen gelesen, dass sich bei mir das Gefühl einer gewissen Regelmäßigkeit einstellen konnte. Es schien fast so, als wäre Gott wahrhaft aufgewacht und hätte ein gesteigertes Interesse entwickelt, politische Beschwichtigungen und Dummgelabere sogleich tatkräftig zu kommentieren.
  Und jetzt lese ich von der Entführung des ehemaligen Diplomaten Jürgen Chrobog im Jemen: Ein bedauernswerter Zwischenfall, und Chrobog hat unzweifelhaft jeden Anspruch auf Hilfe seitens des deutschen Staates – aber man fragt sich schon, ob es wirklich nur ein Zufall ist, dass hier ausgerechnet ein Mann entführt wurde, der sich während des Falles Osthoff sehr weit aus dem Fenster gelehnt und schwere pauschale Vorwürfe gegen Entführungsopfer im Ausland geäußert hatte?
  Nun, vermutlich ist das alles nur ein Zufall. Man muss ja bedenken, dass auf solche sonderbaren Begebenheiten Tausende von Politikerworten und Taten kommen, die keine entsprechenden Folgen nach sich ziehen. Das fällt niemandem auf – im Gegensatz zu den fünf, sechs »passenden« Schicksalswendungen, die sich dann doch im Verlauf eines Jahres ergeben.
  Trotzdem: Ich finde es schon seltsam, dass ich jetzt regelmäßig solche Begebenheiten in der Zeitung protokolliert finde, während ich mich aus früherer Zeit nicht an einen einzigen solchen Vorfall erinnern kann. Lebt Gott tatsächlich und bestraft kleine (und weniger kleine) und öffentliche Sünden gleich ebenso spektakulär? Leben wir alle in einer Matrix und haben jetzt einen neuen User bekommen, der Gefallen an solchen bemerkenswerten Zufällen findet?


Woran auch immer es liegt - achten Sie mal darauf! Bestimmt werden auch Sie regelmäßig solche Vorfälle finden ...
  Und achten sie auch darauf, was sie sagen und wofür Sie öffentlich und in den Zeitungen eintreten. Denn vielleicht lebt Gott ja tatsächlich und inszeniert mitunter mal pressewirksam Beispiele seiner höheren Gerechtigkeit – und zwar vor allem dann, wenn jemand, der selbst durch ein öffentliches Amt Verantwortung übernimmt und dafür von der Gemeinschaft selbstverständliche Privilegien und Vergütungen in Anspruch nimmt, andererseits durch leichtfertige Beschwichtigungen seine Mitmenschen in Gefahr bringt oder kaltschnäuzig und ohne menschliches Mitgefühl die Leistungen der Gemeinschaft, von der er zehrt, zugleich für andere Mitglieder derselben in Frage stellt.

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