Doch der Reihe nach: Sicher hat jeder schon mal vom berühmten »kleinsten gemeinsamen Nenner« gelesen. Dieser Ausdruck wird gerne verwendet, um das Fehlen von Substanz zu beschreiben. Ein Film beispielsweise, der dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums folgt, ist so dämlich und anspruchslos, dass ihm selbst der dümmstmögliche Zuschauer noch mühelos folgen kann. Wer einen solchen Film dreht, der hofft auf viele Zuschauer, weil er zwar vielleicht nicht viel bietet – aber auch niemanden abschreckt!
Jeder weiß also, was gemeint ist, wenn vom kleinsten gemeinsamen Nenner die Rede ist.
Was aber, wenn ein Rezensent die gelernten Begriffe nicht einfach verwendet, sondern allzu viel darüber nachdenkt? Dann taucht ganz leicht ein allseits bekanntes Phänomen auf: Wer selbst nicht zu den geistigen Überfliegern zählt und im täglichen Leben wenig versteht, der neigt – wenn die nötige Selbsterkenntnis fehlt – leicht zu dem Vorurteil, dass er nur deshalb nichts versteht, weil die anderen sich alle falsch ausdrücken.
So erging es wohl auch einem Kulturteil-Rezensenten meiner Tageszeitung, der offenbar letztens mal alles hinterfragen und besser machen wollte. »Warum«, so fragte sich dieser Rezensent, »spricht man eigentlich vom kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums? Es geht doch darum, dass diese Filme ein möglichst großes Publikum erreichen wollen, und groß ist ja nicht klein!«
Also schrieb er flugs in seine Rezension: »... dass Peter Segal ... auf dem größten gemeinsamen Publikumsnenner zugearbeitet hat.« Das könnte sogar ein lustiges Spiel mit Worten sein, wenn der Rezensent das Gegenteil vom »kleinsten gemeinsamen Nenner« meinen würde und aussagen wollte, dass dieser Peter Segal eher ein anspruchsvolles Publikum bedient. Will er aber nicht, wie man dem Rest der Rezension entnehmen kann. Er wollte einfach nur schlauer sein als alle anderen und die übrige Welt belehren, dass ein großes Publikum auch einen großen Nenner benötigt.
Nun, ich habe diesen Hilferuf eines blind im Sprachnebel umhertappenden Schreiberlings gehört. Und versuche mal, die mathematischen Lücken im Kulturteil zu stopfen. Also: Was ist ein Nenner?
Wer nicht allzu oft Mathe geschwänzt hat (beispielsweise, um die morgendlichen Wiederholungen kulturell hochwertiger Filmklassiker nicht zu versäumen), der sollte den Begriff noch aus der Schule kennen: Bei einer Bruchzahl hat man oben den »Zähler« und unten den »Nenner«. Wird der »Zähler« eines Bruches groß, so ist auch die Zahl groß. Der »Nenner« ist aber der Betrag, durch den die Bruchzahl geteilt wird. Und wenn man an viele verteilt, bleibt wenig übrig. Also: Ein großer Nenner ergibt eine kleine Zahl. Ein großes Publikum will einen kleinen Nenner ...
Aber das ist zugegeben auch nur die halbe Wahrheit: Das Defizit des Rezensenten ist in Wahrheit doch ein sprachliches, kein mathematisches. Denn mathematisch betrachtet ist es natürlich egal, ob man den größten oder den kleinsten gemeinsamen Nenner wählt: Der Bruch bleibt gleich, weil der Zähler sich in gleichem Maße ändert. Aufs Bild übertragen hieße das: In dem einen Fall enthält der Film nur das, was keinen Zuschauer verschreckt; im zweiten Fall enthält er für jeden Zuschauer etwas.
So funktioniert die Mathematik. Aber nicht die Sprache. Sprache formt Bilder, und sie nimmt nur einzelne Elemente aus anderen Lebensbereichen und versucht damit, abstrakte Zusammenhänge anschaulich zu machen. Das Bild mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner baut gerade darauf auf, dass so mancher aus der Schule noch eine Vorstellung von der Bedeutung eines Nenners hat. Und dass, wenn man vom kleinsten gemeinsamen Nenner spricht, die Assoziation da ist: Der Zähler zählt die Quantität, der Nenner ordnet nach Qualität. Und wenn die Qualität groß ist, wird das Publikum klein.
Ob diese Vorstellung immer so mit der Wirklichkeit konform geht, sei dahingestellt. Es ist eben ein Klischee. Aber mit dem »größten gemeinsamen Publikumsnenner« wird schlichtweg das Bild krumm. Der Inhalt wird nicht intelligenter, nur die Assoziationen der Worte stimmen nicht mehr. Und damit kommen wir dann auch zum allgemeinen Fazit des heutigen Blog-Eintrags (denn das hier ist ja immer noch ein »Writers-Blog«, um mal wieder daran zu erinnern):
Sprache ist in erster Linie Konvention. Das bedeutet im Zweifel auch: Nicht denken – nachschlagen! Wenn man souverän und professionell mit Sprache umgehen will, sollte man diese Regel zuallererst verinnerlichen. Wer zu schlau sein möchte und zu viel über die Bedeutung von Worten nachdenkt, dabei aber die Konventionen der Sprache außer Acht lässt, der generiert damit regelmäßig schräge Formulierungen, die bestenfalls falsch wirken – und schlimmstenfalls peinliche Stilblüten sind.
Vor allem, wenn's dann auch noch mit Mathe hapert ;-)
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